Emil begegnete also, wie

geschildert

, auf seinem Weg zur Ziegelei oben auf dem Elberfelder Uellendahl, in seinen Taschen wohl die gesamten Lohngelder der väterlichen Firma, dem Kutscher des Vaters und sah, wie dieser auf die Pferde einprügelte. Emils Verhältnis zu Pferden war geprägt durch den vertrauten Umgang mit Ella, dem Familienpferd und Familienmitglied, das u.a. die Kutsche des Vaters zog. Das brutale Verhalten des Kutschers erschreckte und empörte ihn. Emil galt als ruhig und friedfertig, er soll aber von der mütterlichen Familie, den Simons, nicht nur die Statur, also Kraft und eine für die damaligen Verhältnisse enorme Körpergröße, sondern auch eine gewisse Neigung zum Jähzorn "geerbt" haben, der zwar selten, jedoch dann besonders entflammte, wenn er Ungerechtigkeit gegenüber Schwachen spürte.

Erste Etappe

Jetzt muss panische Angst den Vierzehnjährigen gepackt haben, und diese Angst brachte ein Verhaltensmuster hervor, das sich später noch wiederholen sollte - so etwa beim

Hausverkauf

und als es um die berufliche

Zukunft seines Sohnes

ging - nämlich die Bereitschaft, unter Druck sehr schnell weitreichende radikale Entschlüsse zu fassen, oft ohne Alternativen oder Konsequenzen sorgfältig abzuwägen. Jetzt, in seiner Panik, beherrschte nur noch ein Gedanke ihn: Flucht! Und so nahm der Vierzehnjährige aus dem Stand, ohne noch einmal nach Hause zu gehen oder auch nur irgendeine Art Kontakt mit der Familie aufzunehmen, den Weg zum Bahnhof. Was bedeutete dieser schnelle, radikale Entschluss? Wohin wollte, wohin konnte Emil fliehen? Emil wollte jetzt so weit weg wie es ging, an einen Ort, so sicher vor Polizei und Justiz wie möglich, aber zugleich auch sicher vor den Gefahren des allzu Unbekannten und Fremden. Die Quadratur des Kreises? Seine Gedanken rasten.

Elberfeld-Bf.1880 440

Unten: Elberfelder Bahnhof um 1880 (1849 erbaut, zunächst als Bergisch-Märkischer Bahnhof
der Bergisch-Märkischen Eisenbahngesellschaft)

Ja, es gab diesen Ort für ihn, und gedanklich lag er sogar ganz nahe, unendlich viel näher als geographisch. Denn kaum etwas lag in dieser Situation näher für ihn, als an seinen Onkel Ferdinand und seine Tante Ida zu denken. Sie und ihre beiden Kinder waren praktisch Familienmitglieder gewesen, bis sie nach Amerika ausge- wandert waren,

Ferdinand

vor 3 Jahren,

Ida und die Kinder

erst vor 3 Wochen, nachdem sie endlich Ferdinands Nachricht erhalten hatten, dass sie jetzt nach- kommen konnten. All das hatte Emil hautnah verfolgt, vermutlich hatten Ida und die Kinder in den letzten drei Jahren sogar unter einem Dach mit den Müllers gelebt. Womöglich hatte er sie sogar am Bahnhof mit verabschiedet. Er wusste, dass ihr Schiff ziemlich genau jetzt in New York angekommen sein sollte.
 
Aber wie war es zu schaffen, dort hin zu gelangen? Für einen darauf nicht wirklich vorbereiteten, auf sich allein gestellten 14jährigen? Doch auch diese Antwort lag quasi hautnah. Als würde es unter seinen Nägeln brennen, drückte ja in seiner Tasche das Geld, die Riesensumme, für die er Verantwortung trug. Sie war ein Problem für ihn, aber er erfasste, dass es genau dieses zweite Problem war, das die Lösung des ersten brachte, dass er nämlich das Mittel, das ihm den Weg über den Ozean bahnen könnte, schon bei sich trug. Das Geld würde ihn retten. Emil wusste nun, er musste auf ein Schiff nach Amerika gelangen. Antwerpen, wo seine Tante an Bord gegangen war, war Ausland und ihm, ohne Papiere, verschlossen, aber er wusste, dass ja Bremen damals, auf dem Höhepunkt der deutschen Amerika-Auswanderung (1,5 Millionen Auswanderer in den 1880er Jahren) der wichtigste und größte Auswandererhafen war. Und Bremen war, auch das wusste er, ohne Hindernisse mit dem Zug zu erreichen.

Bremerhaven.AlterLloydbahnhof.402

Alter Lloydbahnhof in Bremerhaven

Dank_an_Quelle
 
Uellendahl.Rauhkamp.NO.v.Ziegelei.ca.1900_Kopie
UellendahlerStr.1898.515

Beispiele für einen solchen oft, aber nicht immer “gerechten Zorn” sind sowohl von seinem Onkel Ferdinand als auch von seinem Großvater Kaspar Heinrich Simon bekannt. Selten allerdings dürften diese beiden Familienmerkmale, also Jähzorn in Verbindung mit Kraft und Statur, so weitreichende Folgen gehabt haben wie in

diesem Moment

. Emils Ärger und Empörung über das Verhalten des Kutschers steigerten sich in unbändige Wut, er entriss dem Mann die Peitsche, nahm den hölzernen Peitschengriff und prügelte damit in wildem Zorn auf den Kutscher ein. Dabei traf er ihn offenbar so unglücklich, dass der Kutscher wie ein gefällter Baum zu Boden ging und völlig regungslos liegen blieb, wie sehr Emil sich jetzt auch bemühte, ihn aufzuwecken: der Kutscher schien mausetot.

Unten: Szene vom stadtnahen Teil der Uellendahler Straße gegen  Ende des 19. Jahrhunderts. Oberhalb der Ziegelei zeigte Uellendahl ein zunehmend ländliches Gesicht (Foto links unten).

Zum Elberfelder Bahnhof am Döppersberg (s.o.) war es nicht weit, er lief also dorthin und kaufte, von seinem Geldschatz, erst einmal eine Fahrkarte nach Bremen. Da seit 1875 in Preußen nach und nach die Schienennetze der früheren diversen Privatbahnen zu einem großen, staatlichen Netz vereinigt worden waren, konnte er, mit ein- oder zweimaligem Umsteigen, problemlos nach Bremen gelangen. Von hier, vom Bahnhof der Hamburg-Venloer Linie, konnte Emil die 1862 eröffnete "

Geeste-Bahn

" bis zum

Geestemünder Bahnhof

nutzen. Von dort stellte eine kurze Stichstrecke die Verbindung zum damaligen (alten) Lloydbahnhof (s.u.) in Bremerhaven her, der unmittelbar bei der (1869/70 gebauten, alten) Lloydhalle lag, wo damals die Ozeandampfer an- und ablegten.

geboren am 17. März 1851 in Harscheid
gestorben am 4. Februar 1918 in Williamsport,
geboren am 10. September 1870  in Elberfeld
gestorben am 18. Februar 1932  in Elberfeld

1882

1885

Emil Müllers Flucht nach Amerika (II)

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UnterschriftMuellerEmilKlein
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Famgesch
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