Zwei Welten

So verband sich der Verlust, den er erlitt, zunächst doch auch mit Hoffnung, denn schon 1931 wäre er gern in den USA geblieben, länger oder auch auf Dauer, wenn seine Arbeitserlaubnis nicht auf ein Jahr begrenzt gewesen wäre. Und 1939 gab es noch viel mehr Gründe als 1931, auf einen irgendwann bei Ford möglichen Wechsel in die USA zu hoffen. Doch statt eines solchen, noch weiter gehenden Neuanfangs, statt dem Schrecken zu entkommen,  kam, wie wir wissen, noch im selben Jahr 1939 (für ihn endgültig 1940) eine Steigerung in neue Dimensionen, ein nicht mehr enden wollendes Grauen.

Mitten in dieser "neuen Welt" hatte Kurt Müller dann aber zunächst ein wenig Glück, durch seinen Wechsel an das Arbeitsamt Mönchen-Gladbach. Für eine Zeitlang, für immerhin ca. 3 Jahre (1934-1937), gewährte das Schicksal ihm eine Atempause, hier fand er eine Oase des beruflichen Überlebens und lernte zudem seine spätere Frau kennen.

Nach seiner Rückkehr aus den USA plante Kurt Müller, dem Bank- und Versicherungswesen den Rücken zu kehren, um endlich einen von ihm selbst und nach seinen Interessen gewählten Beruf ausüben zu können. In dem Arbeitsfeld, das seinen Interessen entsprach, der Pädagogik, verfügte er zwar weder über einen Abschluss noch irgendeine Ausbildung. Auch ein "zweiter Bildungsweg", wie es ihn später einmal geben sollte, stand nicht zur Verfügung. Dennoch schälte sich immer deutlicher ein erreichbares Ziel heraus. Es gründete auf der Hoffnung, dass seine doppelte berufliche Qualifikation (Bank, Versicherung) ihm vielleicht doch die Türen zu einer entsprechenden beruflichen Tätigkeit öffnen könnte, nämlich im Bereich der Berufsbildung.
 
Bevor er jedoch dieses Ziel aktiv verfolgen konnte, stellte er aber, zurück in Deutschland, zunächst fest, dass neue Schwierigkeiten sich auftürmten. Seinem schon lange schwer kranken Vater ging es immer schlechter. Kurt musste jetzt zuerst einmal für die Familie da sein. Dies galt noch mehr, nachdem, kaum mehr als ein halbes Jahr nach Kurts Rückkehr, im Februar 1932 der Vater gestorben war

Während all dieser Jahre seit seiner Rückkehr war natürlich der Kontakt zu seinen Verwandten und Freunden in den USA nie abgerissen, und auch nicht die Hoffnung, sie vielleicht doch eines Tages wiederzusehen. Das Leben in den USA war zwar auch durch die Weltwirtschaftskrise geprägt, die Bedingungen besserten sich aber schon wieder, und im Übrigen war die Williamsporter Welt unverändert. Was man dort von Deutschland und den dramatischen Veränderungen hier wusste, bleibt unklar. Die meisten einfachen US-Bürger werden die Bedeutung dessen nicht wirklich erfasst haben, das sich in Deutschland zutrug und nur ein Jahrzehnt nach Kurts Abschied auch in ihr Leben tief eingreifen sollte, wenn auch in das der meisten nicht so tief wie in das der Europäer.

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Jetzt musste Kurt, angesichts der prekären finanziellen Situation der Familie, die Firma des Vaters abwickeln und dafür sorgen, dass schon im Entwurf vorhandene, aber noch nicht komplett ausformulierte Gutachten irgendwie auch formell abgeschlossen wurden, so dass dafür Rechnungen gestellt werden konnten. Es dauerte etliche Monate, bevor Kurt wieder beginnen konnte, sich ganz um seine eigene berufliche Zukunft zu kümmern. Dank einem privaten Kontakt hatte er Einblicke in die Elberfelder - inzwischen Wuppertaler - Berufsberatung, er erfasste, dass hier die Chance vor ihm lag, auf die er wartete, und versuchte, dort Fuß zu fassen, was aber wegen der damals sehr hohen Arbeitslosigkeit zunächst sehr schwierig war. Immerhin waren über die vorhandenen beruflichen Abschlüsse hinaus keine weiteren erforderlich. Ein halbjähriges Praktikum, eine gute Beurteilung, Geduld und Glück waren die einzigen weiteren Voraussetzungen, um das Ziel einer Anstellung als Berufsberater zu erreichen. Und er

erreichte

es.

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1931.AdrB.Gutachter.Exz.240
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Oben: Aus dem Wupper- taler Adressbuch von 1931

Links:
Emil Müller 1930

Er erreichte es, und zunächst erschien es als ein großer Erfolg. Aber es geschah - tragischerweise, und diese Bewertung ist, spätestens mit dem Blick auf die folgenden Jahre, nicht übertrieben - in einer Zeit, als die Welt, wie er sie kannte und für die er stand, gerade unterging. Denn inzwischen war 1932 vorbei, auch 1933, und schon längst hatte das Jahr 1934 begonnen. Damit waren die letzten Illusionen über den Charakter dieser neuen Welt und über die Dauerhaftigkeit der nun errichteten Herrschaft vernichtet. Nicht nur war in der neuen Welt für Kurts literarisches Schaffen kein Platz mehr. In ihr zählten auch alle seine psychologisch-pädagogischen Interessen nicht mehr viel. Die Motive, die ihn antrieben, und erst recht die an die Aufklärung anknüpfenden Werte, an denen er sich orientierte und wie sie auch im Dankschreiben der Alfred University zum Ausdruck kommen, waren nichts mehr wert, ja, sie waren ebenso verpönt und inkriminiert wie die Autoren, deren Werke ihn inspirierten. Freud war verbotener Autor, die Reformpädagogik "entartet". Anfangs wollte er diese Aussichtslosigkeit nicht wahrhaben und versuchte, sich irgendwie, auch unter Selbstverbiegungen (siehe

hier

), nach der Decke zu strecken, auf Zeit zu spielen und vorerst irgendwie unter den neuen Umständen zu überleben.

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Kurt Müller bei der Berufsberatung. Seine Klienten waren vorwiegend Jugendliche.

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0ws245.1942.Graeber.420

Die berufliche Tragik nahm jedoch wieder Fahrt auf, als Kurt Müller im Jahr 1937 die Leitung der Berufsberatung am Arbeitsamt in

Kempen

am Niederrhein übernahm, wo er sich plötzlich unter der hautnahen Beobachtung der in dieser Behörde zu seiner Überraschung konzentrierten örtlichen Nazi-"Prominenz" wiederfand. Deren Druck, sich ihnen zu unterwerfen und anzuschließen, und Kurt Müllers realistische Furcht vor den Folgen seines zunächst aufrechterhaltenen - passiven - Widerstands wuchsen immer mehr. Er erlebte, wie sein Widerstand gegen diesen Druck schließlich einbrach, und musste am Ende dennoch erkennen, dass er, um sich wirklich einigermaßen aus dieser bedrängenden, gefährlichen Situation zu retten, alles Erreichte wieder aufgeben musste, dass er seinen Beruf, der zum ersten Mal im Einklang mit seinen Interessen gestanden hatte, nicht länger ausüben konnte.
 
Also verließ er 1939, nach 6 Jahren, die Berufsberatung wieder und fing neu an. Auch dieser Neuanfang hatte wieder mit Amerika zu tun. Denn er bewarb sich - und zwar erfolgreich, sicher auch aufgrund seines guten amerikanischen Englisch -  beim Autobauer Ford, der damals - wie heute - sein großes europäisches Werk in Köln betrieb.

1945: ein neues amerikanisches Kapitel
 

Links:
Emil Müllers
Grab 1932

Rechts:
Herta Müller 1937

Rechts: Grauen des Krieges. Gräber von Kameraden.

Als das Grauen von Krieg und Naziherrschaft, jedenfalls für Kurt Müller, nach einer Unendlichkeit der Perspektivlosigkeit und Unfreiheit, schließlich doch endete, endete es mit einem ganz neuen Kapitel Amerika:

Gefangenschaft

. Gleichwohl blieb Amerika, ­für­Kurt Müller, sich treu. Denn diese Gefangenschaft war eine Befreiung. Sie brachte ihm die Freiheit zurück, die Amerika immer für ihn bedeutet hatte.

c  Kurt Müller 2021
1945: ein neues amerikanisches Kapitel
 
Kopfleiste.Basis.pur
geboren am 8. August 1904 in Elberfeld
gestorben am 23. Dezember 1982 in Gütersloh

Kurt Müller

(sen.)

Amerika 1930 - 1931

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c  Kurt Müller 2021
1945: ein neues amerikanisches Kapitel