1933 begann die Nazizeit, von der wir heute wissen, wie sie endete. Wir blicken heute zurück auf eine ethische und physische Apokalypse, die 1933 ihren Lauf zu nehmen begann. Wer damals lebte, jedoch, hatte diese Erfahrung noch nicht zur Verfügung. Einzelne gab es zwar, die erstaunlich hellsichtig auf die "Machtergreifung" der Nationalsozialisten reagierten, nicht nur Nazigegner vom anderen Ende des politischen Spektrums, auch ein rechtsradikaler Antidemokrat (und Hitlerkenner) wie Ludendorff soll sich geradezu prophetisch geäußert haben. Aber die große Mehrheit der Klugen und der Dummen, der späteren Täter ebenso wie der späteren Opfer ahnte wenig vom Ausgang, und zwar trotz allem noch auf Jahre hinaus. Viele, unter ihnen Kurt Müller, bewerteten Hitlers "Machtergreifung" als große Katastrophe, sehr vielen war die Inhumanität, vielen auch die mörderische Kriminalität seines Regimes bewusst. Aber auch von ihnen vermochte die große Mehrzahl es nicht, die apokalyptischen, singulären Dimensionen von Auschwitz und Kriegsverwüstung auch nur annähernd vorherzusehen.
Genau dies jedoch wird ihnen heute, rückblickend, oft vorgeworfen bzw. abgefordert, mit Argumenten - z.B. mit Zitaten aus Hitlers "Mein Kampf" - , die nahezulegen scheinen, dass für Jeden, der seinen Kopf nicht mit Eifer in den Sand steckte, schon 1933 hätte klar sein müssen, dass am Ende jener Entwicklung Völkermord und Weltenbrand stehen mussten.
Stimmen diese Argumente, treffen sie die historische Realität? Haben wir das Recht dazu, uns aus sicherer Distanz derart leichtfertig verurteilend, moralisch stigmatisierend, psychologisch dämonisierend über die zu erheben, die - wie die Mehrheit der Deutschen - als kleine, genau so intellektuell beschränkte und ethisch ungefestigte Menschen wie wir selbst vor eine außergewöhnlich schwierige politische Aufgabe gestellt und ihr nicht gewachsen waren?
Heute erkennen wir die unerbittliche Logik der Destruktion, aber können wir behaupten, genau dieses eine alle Vorstellungskraft sprengende Ende sei auch für die Menschen von damals von vornherein absehbar gewesen, als Wegweiser in ihren Entscheidungskonflikten über Tun und Lassen im Spannungsfeld von privatem und politischem Handeln? Wenn wir heute ihr Handeln und ihre Motive zu verstehen versuchen, dann ist es dieses Ende, das uns unter einen Bewertungsdruck setzt, der uns in der Tat die Unbefangenheit und Ausgewogenheit des Urteils zu rauben droht. Wir entlasten uns, machen es uns leicht, indem wir unser ganzes Erschrecken und Unverständnis nicht wahrhaben und aushalten, sondern diesen Druck weiterreichen, ihn umwandeln in Empörung und, mit einem Zirkelschluss, einer Pseudoerklärung, das Abwegige und Schreckliche, das Böse den damals Lebenden als Motive, als Charaktermerkmale zuschreiben. Oft genug wissen wir noch viel zu wenig über das Leben zu jener Zeit, unterwerfen uns trotzdem dem Druck, Stellung zu beziehen, und retten uns, um dies zu können, in Notlösungen, greifen zurück auf Stereotype, Verallgemeinerungen und Unterstellungen, ohne uns über die Willkürlichkeit unserer Urteile Rechenschaft zu geben. Wir stehen unter Druck, auch noch den kleinsten individuellen Verfehlungen eine dem übergroßen Verbrechen proportionale Intentionalität und Schuld zuzuweisen. Auch Historiker erliegen nicht selten der darin enthaltenen opportunistischen Versuchung leicht verdienter Anerkennung.