Kurt Müller sr.

geboren am 8. August 1904 in Elberfeld
gestorben am 23. Dezember 1982 in Gütersloh
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Aufbruchszeit
 
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Mönchengladbach 1934 -1937
 
Mainfahrt 1935
 
Kempen 1937 -1939
 

Die NS-Zeit

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1933 - 1940

 
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Wuppertal 1933 -1934
 
Köln ab 1939
 
Portraet1kl
 
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"

Nach dem 2. Weltkrieg habe ich dann erst erfahren, dass er Jude war. Er wollte von   den Deutschen nichts mehr wissen. Er war ein feiner Kerl.

"

Kurt Müller über den jüdischen Amerikaner

Gene Guintor

, einen Freund während des Jahres in den USA:

gw1kl

"... besuchten wir auch   Ihre  lb. Großmutter  & ich denke oft daran zurück. Sie war solch  eine liebe Frau & so tüchtig. Sie & Ihr Vater blieben uns treu trotz Hitler."

Grete Wolf

1983 in Briefen an Kurt Müller jun.:

Links:


Grete Wolf,


verh. Ullman
ca. 1946
in den USA

GreteWolfPortr.191

...................               .

"...wenn ich
in Elberfeld war, um meine Mutter
zu besuchen, kamen wir auch
immer zu Müllers, oder sie zu uns.
Ihren lb. Vater sah ich später nur
selten,  er  war  ja nicht mehr in
E., aber er hat seine Freundschaft
aufrecht erhalten, trotz der furcht-
baren Zeiten & er sowie seine
Mutter haben es nicht unterlas-
sen mit uns in Verbindung
zu sein, so nahe standen [

sich

] die
beiden Familien."

GreteWolf198304b_Exz2_Kopie_2
s82.AugustHoffman.251

Nazi-Gegner
August Hoffmann,
Leiter der Berufsberatung
in Mönchengladbach

KEMfederz2c2
SiepmannSA

Kurt Müller durchlebte, ebenso wie seine Frau, die NS-Herrschaft ohne eigenen körperlichen Schaden, trotz vielfältiger Gefahrensituationen blieb er gesund und unverletzt. Beruflich konnte er zunächst sogar Fuß fassen in einem Arbeitsfeld, das seinen pädagogisch-psychologischen Interessen entsprach, nämlich als Berufsberater, auch wenn er dieses Arbeitsfeld, als indirekte Folge des Drucks durch das NS-Umfeld, kurz vor Kriegsausbruch wieder aufgeben musste. Im Krieg diente er in einer

Luftwaffen-Baukompanie

, zusammengesetzt aus überwiegend "poltisch unzuverlässigen" Jahrgängen, die eine Art Puffer bildete zum Nazi-Umfeld und insgesamt eher wenig an Kampfhandlungen beteiligt war. Dort blieb er für den größten Teil des Krieges, aus dem er nach einer dramatischen Flucht aus Belgrad und kurzer Gefangenschaft körperlich gesund zurückkehrte.
 
Von großem Leid waren diese Jahre für ihn und seine Frau trotzdem begleitet, auch über Kriegshorror und Bombennächte hinaus. Sie erlebten 1944 die

Totgeburt

ihres bis dahin einzigen Kindes, der zweite Verlust eines werdenden Lebens nach der Fehlgeburt in der Progromnacht 1938. Kurz darauf wurde die Wohnung der Müllers mit allen Werten, materiellen und v.a. immateriellen, ebenso völlig

 zerstört

wie die Wohnung von Kurt Müllers Kindheit und Jugend, die elterliche Wohnung in Elberfeld. Dann, als der Krieg schon vorbei schien, starb noch, in Folge von Kriegsereignissen, Kurts einzige Schwester

Fritzi

.

Aber es waren auch Jahre, die ihn mit all ihren ihm auferlegten Prüfungen einer Metamorphose unterwarfen, einer Metamorphose, die er, wäre er vorher gefragt worden, sich nicht ausgesucht hätte und deren Ergebnis gleichwohl nicht nur Verlust bedeutete, sondern ihn auch stärker machte, wenn auch auf ganz anderen Bewährungsfeldern als sie ihm bis dahin wichtig waren. Unter Druck und Zwang erfand er sich gewissermaßen neu. Nach dem Krieg sollte sich dies in aller Klarheit zeigen, nachdem es sich vorher schon phasenweise ankündigte in Gestalt der Erfahrung erster beruflicher Selbstfindung als Berufsberater in Mönchengladbach und eines erfolgreichen Starts bei Ford.
 
Trotzdem gilt: was ihm zuvor wichtig war, sollte nicht mehr wiederkehren, seine alten Stärken sollten nicht zu neuem Leben erwachen. Verschwunden blieb nicht nur während der NS-Zeit, sondern auch nach deren Ende die (in seinem späteren Umfeld weitgehend unbekannte) schriftstellerische und künstlerische Identität seiner frühen Jahre (siehe

Bericht über die 20er Jahre

), die über jugendliche Versuche weit hinaus ging. Diese Identität  ging in den 30er Jahren unter und trat später, abgesehen von einem einzelnen späten Höhepunkt seines Schaffens, seinen

Kriegsgedichten

, nicht mehr produktiv in Erscheinung.

Alles begann mit einem anderen Abschied: dem von Amerika 1931, nach seinem einjährigen

USA- Aufenthalt

, der kleinen

Zäsur

, die die große einleitete, einem Abschied vom persönlichen Traum von Freiheit und die Rückkehr unter die Bürde der Verantwortung. Sein ganzes Erwachsenenleben hindurch hatte ihn, angesichts der nach 1918 wirtschaftlich stets unsicheren Lage der Familie, wie eine Obsession die angstvolle Vorstellung verfolgt, später ganz allein

Mutter

und

Schwester

ernähren zu müssen. Die Heirat der Schwester 1929 war dann, wie er mehrfach erzählte, für ihn zunächst wie eine Erlösung, unvermutet, denn er hatte daran gezweifelt, dass sie jemals heiraten würde.  Den anderen Teil der Verantwortung aber, die Sorge für die Mutter, sah er weiterhin und immer deutlicher auf sich zu kommen, und mit dem Tod des Vaters 1932 wurde die Bürde Wirklichkeit. Die zu diesem Zeitpunkt 49jährige Mutter war mittellos und berufslos, ihr Sohn betrachtete es als ganz allein seine Aufgabe, für sie zu sorgen. Dass auch sie - ein zweites Mal - heiraten würde, war zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar, und dass sie ihren Lebensunterhalt irgendwie selbst würde verdienen können, scheint noch weniger vorstellbar gewesen zu sein. Seine Verantwortung band ihn, er unterwarf sich der Pflicht, so wie er sie als unausweichlich erlebte.

Dann kam die

NS-Diktatur

,  ihre totalitäre Herrschaft über öffentliches und privates Leben. Das Joch, vor dem ihm graute, dem er sich aber nun auch beugen zu müssen glaubte, als Konsequenz der Zwänge, denen er bereits unterworfen war.
 
Mit den Nazi-Protagonisten hatte er, auch wenn ihn der spätere unglückselige, von konkretem Druck und Angst diktierte Parteieintritt selbst zum Nazi zu stempeln scheint, nichts gemein. Das fratzenhafte Zerrbild deutscher Kultur, das sie der ganzen Nation überstülpten und mit dem sie sie nach und nach vergifteten, stand in vollkommenem Gegensatz zu seiner Kultur und ethischen Haltung. Auch seine Herkunft aus einer sozialdemokratisch (und sozial) engagierten, liberal denkenden Unternehmerfamilie trug dazu bei. Noch mehr entrückten ihn seine "Lehr- und Wanderjahre" derartigen Motiven, als "Hospitant" bei kommunistischen Freunden,  im Schoß einer weltoffen-fröhlichen Gruppierung junger Christen und schließlich auch im turbulenten Milieu der kulturell-künstlerischen Avantgarde der 20er Jahre.
 
"Wie ein Schwamm" hatte er schon als Jugendlicher die ganze klassische deutsche Kultur und Literatur ("seinen Goethe") in sich aufgesogen und blühte dann auf, als "Multitalent" zeichnend, malend, schreibend, manchmal auch singend zur Gitarre, in der kulturellen Explosion des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts, v.a. der

Zeit nach 1919

(auf einer

separaten Seite

ausführlicher beschrieben), in der auch seine

schriftstellerische, dichterische Produktivität

überbordend aufblühte. Den Höhepunkt dieser enorm produktiven Zeit bildete für ihn die Würdigung seiner Novelle "Georgs Heimkehr" durch den - jüdischstämmigen - Romancier Alfred Döblin, der mit seinem Werk "Berlin Alexanderplatz" zum literarischen Chronisten jener Epoche geworden ist.  Döblin gab Kurt Müller den 3.

.

Preis beim "Nachwuchs"

-Literaturwettbewerb

der "Literarischen Welt". Viel Anerkennung erfuhr er danach auch von dem - ebenfalls jüdischstämmigen - Schriftsteller

Stefan Zweig

, dem er eine Novelle und Kurzgeschichten zur Beurteilung geschickt und mit dem er einen intensiven persönlichen Briefwechsel geführt hatte.

Das war seine Biografie, seine Identität bis dahin. Sein Milieu in jenen Jahren waren Literaten und Künstler, manchmal auch ein Hauch von Bohème mit z.T. exzentrischen Kontakten, und auf der anderen Seite war da -  in einem ähnlichen Künstler-Bürger-Antagonismus, wie ihn auch Thomas Mann immer wieder beschworen hat - die Welt seiner Familie, neu-bürgerlich im Spannungsfeld zwischen bäuerlichen Ursprüngen und einer gewissen Weltläufigkeit (gewachsen aus der herausragenden Persönlichkeit und dem großen geschäftlichen Erfolg seines

Großvaters

). Zu dieser bürgerlichen Welt gehörten auch die beiden

Berufsausbildungen

, als Bankkaufmann und als Versicherungskaufmann, die die Eltern durchgesetzt hatten, gegen seinen Wunsch und sogar gegen das intensive Drängen des Kunstlehrers, der mehrfach die Eltern aufsuchte und eine künstlerische Ausbildung für Kurt Müller erreichen wollte.

Aber v.a. auch in Kurt Müllers engerer Welt persönlicher Beziehungen tauchten immer wieder jüdische Deutsche auf. Schon sein Großvater hatte als wichtigsten Geschäftspartner einen jüdischen Bankier, die Eltern verband die engste Freundschaft mit der aus Gütersloh stammenden jüdischen Familie Wolf. In seiner Gymnasialklasse und noch bis zum Ende der 20er Jahre war er sehr eng befreundet mit dem Sohn des Elberfelder Oberrabbiners und späteren SED- Politbüromitglied

Albert

Norden

. Ebenfalls gut befreundet und durch gemeinsame literarische Interessen verbunden war er mit dem jungen Elberfelder Joseph Rosenthal (Besitzer eines Möbelgeschäfts), der ebenso in Auschwitz ermordet wurde wie drei der vier Töchter der Familie Wolf. Auch diese Menschen waren seine Welt.

Die Auswirkungen einer möglichen weiteren Eskalation des Konflikts im Arbeitsamt Kempen erschienen ihm unberechenbar, Kurt Müller fühlte sich existentiell gefährdet. Um dem sich um ihn schließenden Ring lauernder Beobachtung zu entkommen, schien zu jenem Zeitpunkt nur noch der Parteieintritt den Sprung ans rettende Ufer möglich zu machen. Er gab also schließlich nach und wurde nach jahrelangem Sträuben doch noch Mitglied der Nazipartei.
 
Dieser Schritt geschah zwar unter großem Druck und ging nicht über den formalen Akt hinaus. Kurt Müller ist, außer der Mitgliedschaft als solcher, niemals im Sinn der Nazipartei aktiv geworden und hat niemals deren Einstellungen geteilt. Im Gegenteil, er blieb in seinem Handeln zu allen Zeiten seinen Überzeugungen treu. Als deutliches und von seiner alten jüdischen Freundin Grete Wolf seinem Sohn  gegenüber mehrfach hervorgehobenes, bestätigtes Beispiel seien die Treue im Kontakt und der aktive Schutz genannt, ein Verhalten, das er die ganze Nazizeit hindurch u.a. der Familie Wolf gegenüber aufrechterhalten hat. Dennoch hinterließ der Parteibeitritt ein tiefes Wundmal, weil Kurt Müller ihn als große moralische Niederlage erlebte, als Menetekel der Selbstaufgabe, die zwar durch die Umstände erzwungen, aber nie mehr ungeschehen zu machen war.
 
Später warf er sich dafür nicht nur "Opportunismus", sondern auch "Feigheit" vor.  Die Wunde in seinem Integritäts- und Identitätsgefühl blieb; sein Leben lang bedrückte ihn der Zweifel daran, ob es für diesen Schritt der Unterwerfung wirklich eine hinreichende Rechtfertigung gegeben habe. Seine Parteimitgliedschaft hat er später nicht verheimlicht, nicht verteidigt und nicht für sein Verhalten um Verständnis geworben, sich nicht darauf zurückgezogen, zum Beitritt gezwungen gewesen zu sein, sondern seinen Teil des großen Schuldkomplexes, der sich durch seine Parteimitgliedschaft an ihn zu heften schien, als eine seiner Bürden getragen, stets bereit, sein Handeln infragezustellen (siehe auch "

Ein paar kurze Sätze über meinen Vater

"). Die links wiedergegebene Bemerkung über seinen amerikanisch-jüdischen Freund Gene Guintor bringt in all ihrer Kürze diese Haltung exemplarisch zum Ausdruck.

Bald allerdings musste er erkennen, dass auch sein Nachgeben keine substantielle Entlastung gebracht hatte. Man wollte immer mehr von ihm. Der Druck und die Umklammerung durch die kleinen örtlichen Nazigrößen ließen nicht nach, sondern nahmen sogar zu. Jetzt hatte er die Eingebung, fand, auch unter den Eindrücken der Pogromnacht, den Mut zu einer Lösung, zu der er vorher keinen Zugang gefunden hatte: er wand sich aus der Falle, verließ den Öffentlichen Dienst und die ihm so wichtige Berufsberatungstätigkeit, aber auch Kempen. Er kehrte in die früher ungeliebten kaufmännischen Berufe zurück, indem er einen neuen Anfang machte bei Ford in Köln. Gleichzeitig aber bedeutete dieser Schritt ein Licht der Hoffnung in düsterer Zeit, denn er knüpfte an an ein in strahlender Erinnerung gebliebenes Kapitel seines Lebens, den Aufenthalt in den USA. Er hoffte, mit diesen Schritt vielleicht sogar einmal (ohne sich und seine Familie Gefahren aussetzen zu müssen) dem Gefängnis Nazideutschland in die USA entkommen und damit auch wieder an sein dort erlebtes schönes, freies Jahr (1930/31) anknüpfen zu können.
 
Dann aber begann der Krieg (Kurt Müller wurde ein Jahr nach dem Wechsel zu Ford eingezogen, am 22. April 1940), der alle derartigen Hoffnungen und Pläne zunichte machte. Die Not, in die er durch den Krieg hineingeworfen wurde, wandelte Kurt Müller jetzt noch einmal um in literarischen Ausdruck, dort fand er zeitweilig seine Zuflucht.. Ab 1941 löste der existentielle Druck der Kriegserfahrung einen Schaffensschub aus mit etlichen ausdrucksstarken

Gedichten

, die beredtes Zeugnis dafür sind, dass er sich auch im Krieg seine Menschlichkeit und Sensibilität bewahrt hatte, und vielen

Briefen

, die für sein psychisches - und vielleicht auch physisches - Überleben damals wichtig oder gar notwendig waren und teilweise erhalten geblieben sind.  Doch selbst in diesen "unpolitischen" Briefen (offene politische Meinungsäußerungen, ob in Briefen oder in anderer Form, hätten damals ja Lebensgefahr bedeutet) wird der Druck der Anpassung an die von der Nazidiktatur brutal gesetzten Grenzen - d.h. hier: durch die Briefzensur - deutlich spürbar, nachdem Kurt Müller vorher schon die umfassende nationalsozialistische Durchseuchung des Alltagslebens, die ihm  tief zuwider war, und den damit verbundenen Druck hatte aushalten müssen. Die subtilen Wirkungen dieses schleichenden, 12 lange Jahre anhaltenden Prozesses der Unterwerfung unter die Zwänge der Naziherrschaft können wir heute kaum noch in ihrer Tiefe und Tragweite ermessen. Wer, der nicht emigriert war, konnte sich ganz einer Art schleichender Vergiftung entziehen? Marion Dönhoff, selbst am Widerstand beteiligt (und immer eine Kämpferin gegen verflachendes ahistorisches Denken) brachte sie auf die Formel: "Terror und Erfolg". Die Angst-Peitsche und das narzisstische Zuckerbrot drohten gerade bei Nicht- Nazis eine Dynamik mit Analogien zum "Stockholm-Syndroms" zu fördern.

AlbertNorden1963Portr.123
s28.BK-Freunde.HannsM.310
StefanZweig.286
HermannHesse1919.196
s37.BerufsberatungVorOrt.616
KMaufderBremengenUSA.302
RussQuartier.350
PortrMitSohn.242

Der offensichtlichste und wichtigste Grund für den Verlust dieses Teils seiner Identität war, dass es für Kurt Müllers literarisches und künstlerisches Potential in der Nazi-Wüste der Unterdrückung und Unkultur, der geächteten, verfolgten, zerstörten Kulturszene, der verbotenen Zeitschriften, keine Entfaltungsmöglichkeiten mehr gab.
 
Ein zweiter, weniger offensichtlicher Grund lag darin, dass Kurt Müller im Konflikt zwischen dem Bedürfnis nach einem durch seine persönlichen Leitbilder geprägten, insbesondere künstlerischen Berufsweg und der Sorge um die Familie (damals zunächst v.a. um seine Mutter) letztlich der Familie den Vorrang gab. Diese sein Handeln unter der Hitlerdiktatur mitbestimmende Weichenstellung vollzog sich ansatzweise schon vor der Nazizeit, und sie schuf die Voraussetzungen dafür, dass später der Druck der Machthabenden seine Hebel um so effektiver ansetzen konnte. Sie ebnete so den bald folgenden Zwängen und Abhängigkeiten den Weg, auch wenn diese Unterwerfung unter die erlebten Notwendigkeiten abgemildert wurde durch die Tatsache, dass es ihm trotz beginnender NS-Herrschaft noch gelang, den ungeliebten Bank- und Versicherungsbereich hinter sich zu lassen und als Berufsberater ein Arbeitsfeld zu finden, das sehr viel mehr seinen Interessen entsprach. Allerdings zahlte er etappenweise einen Preis, wie ihn die neue Zeit dafür verlangte. Dieser Preis schloss am Ende den Verlust des vorher gerade eroberten Arbeitsfeldes ein.
 
Was aber auch dann noch erhalten blieb, war das Kernmotiv der Verantwortung für die Familie. Sie wurde sein wichtigster Antrieb, und seine Gestaltungskraft verlagerte sich nach dem Krieg voll auf das Arbeitsfeld, das schon kurz vor dem Krieg die Berufsberatung abgelöst hatte, als er, um dem Nazi-Einfluss zu entkommen, zu Ford ging, nämlich das des Industriemanagers.

Kurt Müller 1938

Kurt Müller als Berufsberater in Mönchengladbach

Abtauchen in eine Oase:

Mainfahrt 1935

Als noch alles Aufbruch zu verheißen schien:
Reise in die USA 1930

Oben: Freunde im BK (links: der spätere Pfarrer Hanns Mantz)

Nach der Versetzung vom  liberalen Mönchen- gladbacher Arbeitsamt mit der verschworenen Gemeinschaft von Nazi-Gegnern in seiner Berufsberatungsabteilung an das kleine, von Nazis dominierte

Arbeitsamt Kempen / Niederrhein

fand Kurt Müller sich unversehens wieder mitten im inoffiziellen Stützpunkt der Kempener SA. Als solche und damit auch als die Brutstätte, die Löwenhöhle des militanten Kerns der örtlichen Nationalsozialisten fungierte tatsächlich, so unwahrscheinlich es auch erscheinen mag, genau dieses Arbeitsamt. Diese Beurteilung wurde in jüngster Zeit durch die

Forschungen des Historikers Hans Kaiser

(u.a.: "Kempen unterm Hakenkreuz") nachdrücklich bestätigt.

In diesem Milieu (siehe auch

hier

), in dem Kurt Müller der einzige wichtige "Fremdkörper" war, geriet er schnell in den Fokus der Aufmerksamkeit von Vorgesetzten und einflussreichen Kollegen. Sie übten einen rapide zunehmenden Druck auf ihn aus und drängten ihn zum Parteieintritt, wollten ihn "gleichschalten" und in ihr Lager ziehen, auch aufgrund seiner - ihnen fehlenden - fachlichen Reputation und seiner persönlichen Beliebtheit. Auch wenn die Botschaft: "wer nicht für uns ist, ist gegen uns" im Nazireich nicht durchgängig galt, hier jedoch wurde sie zur realen Drohkulisse. Kurt Müller war kein ängstlicher Mensch, aber er wusste, wie angreifbar er war aufgrund seiner Kontakte zu Regimegegnern aller Couleurs und zu Juden, aufgrund der von ihm selbst immer wieder gemachten Äußerungen und seiner eigenen politischen und intellektuellen, u.a. schriftstellerischen Vergangenheit und auch Gegenwart, wenn er an die Vielzahl (inzwischen) verbotener Zeitungen, Zeitschriften und Verlage dachte, in denen er publiziert hatte, und an die Fülle jüdischer und aus anderen Gründen verbotener Autoren in seinem Bücherschrank, Namen wie Mühsam, Toller, Wassermann, Heine oder Freud. Da waren seine Freundschaft mit dem jüdischen Kommunisten Albert Norden und dessen Rabbiner-Familie, die Freundschaft  zu Joseph Rosenthal und zur Familie Wolf, der er aktiv die Treue hielt,  die Briefwechsel mit Stefan Zweig und Hermann Hesse, die vielfältigen Kontakte zu Regimegegnern wie u.a. August Hoffmann und Lotte Wentscher, und auch zu seinem Schwager, dem Euthanasie-Verweigerer Fritz Polstorff. Wäre die Stimmung einmal gekippt und er ins Fadenkreuz denunziationswilliger enttäuschter "Fans" gekommen, es hätte genügend Stoff gegeben, um daraus für ihn einen Strick zu drehen.

Arbeitsvermittler und
SA-Obersturmführer
Ernst-Walter Sipmann

Sofort nach dem Krieg befreite Kurt Müller sich von diesem Druck und saugte noch einmal mit der Gier des fast Verhungerten alles in sich auf, was an wiedererblühender Literatur und Essayistik in den allerersten Nachkriegsjahren erschien. Auch wenn er danach nicht mehr zu eigener neuer schöpferischer Aktivität auf literarischem Feld fand, blieb ihm sein unstillbarer Lesehunger zeitlebens erhalten, als ein intensives Miterleben und Nacherleben. Lesen war und blieb seine größte Glücksquelle. Sein aktives Leben, sein Schaffen jedoch vollzogen sich jetzt auf anderen Feldern, die elementare Aufbruchsstimmung der Nachkriegszeit ergriff auch ihn und bildete quasi die Initialzündung für ein neues, ein zweites Leben, aktiv, gestaltend, wenn auch nicht mehr auf künstlerischem Gebiet. Auch zur Berufsberatung kehrte er nicht zurück, denn - das war eine Frucht des bei Ford verbrachten Jahres - er hatte als Industriemanager ein neues Gestaltungsfeld für sich gefunden. Die kurzzeitig versuchte Rückkehr zu Ford gelang zwar nicht, aber er fand, was sich als Lebensstellung herausstellen sollte, als Manager einer Maschinenfabrik in Isselhorst, dem neuen Wohnort seiner Frau seit 1944 (und Heimatort seines Schwiegervaters). Und auch privat gab es Neuaufbruch und Hoffnung: drei Jahre nach dem Krieg wurden Kurt und Herta Müller endlich Eltern eines gesunden Kindes.

Kriegsgedicht "

Russisches Quartier

"

Links: Neue Gestaltungswelten nach dem Krieg bei der Maschinenfabrik

FLACO

, die er mit aufbauen half

Kurt Müller 1948 mit seinem Sohn

KempenArbeitsamtWiesenstr_Kopie_3

Links:
Das alte Kempener Arbeitsamt

Seinen jüdischen Freunden hat er (genau wie seine Mutter) zu allen Zeiten die Treue gehalten, wie sehr auch sein Parteibeitritt 1938 zur Unterstellung des Gegenteils provozieren mag,  und mit ihnen während der Nazizeit nicht nur Kontakt gehalten, sondern sich stets aktiv bemüht, sie vor Übergriffen zu schützen. Nach seinem Tod wurde dies vom einzigen Mitglied der Familie Wolf, das Nazizeit und Holocaust überlebte,

Grete Ullman geb. Wolf

, in ihren Briefen aus den USA an Kurt Müller jun. wiederholt hervorgehoben. Sie schrieb, mit der Familie Müller habe sie wahre und gute Freundschaft erlebt, auch die Nazizeit hindurch, wie sie sie später woanders nie mehr erfahren habe! In diesem Handeln kommt seine ganze Haltung zum Nazistaat zum Ausdruck, für die es noch etliche weitere Beispiele gibt (z.B. die Freundschaft mit einem auf riskante Weise offen regimefeindlichen lesbischen Paar).
 
Er selbst aber warf sich Opportunismus vor, weil er über eine einzige fatale Handlung, seinen Parteieintritt, nicht hinwegkam. In der Tat, auch Kurt Müller beugte sich in einer kritischen, bedrängten Lebenssituation, was ihn immer bedrücken sollte, der Atmosphäre des Terrors, die auf eine - hier ist das Wort angebracht - diabolische Weise mit der Euphorie, heute würde man sagen: dem Hype des Erfolgs verschmolz, wie Marion Dönhoff einmal die Durchsetzungskraft des Naziregimes analysierte.

Rechts:
Jugendfreund

Albert Norden

Ein weiterer wichtiger Teil seiner Welt waren seine Freunde im ausgeprägt

christlichen Milieu

. (v.a. durch den

"B

.

K

.

"

, den

"Bibelkreis Höherer Lehranstalten"

, siehe dort!). Zugleich aber - und das ist natürlich besonders aus heutiger Perspektive erwähnenswert - gab es viele Beziehungen und Bezüge in die jüdische Welt. Antisemitismus war ihm - und seiner Familie - völlig fremd. In der großen Welt der deutschen Literatur spielten jüdische Deutsche ohnehin eine hervorgehobene Rolle. Die führende Literaturzeitung, die Kurt Müller seinen "dritten Preis" im Literaturwettbewerb zuerkannte, war die  "Literarische Welt", getragen von Prager Juden, gegründet von   

Willy Haas

, mit dem großen deutschen Schriftsteller

Alfred Döblin

("Berlin Alexanderplatz"), einem Juden, als Juror. Kurt Müller korrespondierte mit

Stefan Zweig

, auch einige heute noch berühmte, große Verlage waren jüdisch (u.a. Ullstein, S.Fischer), in deren Zeitschriften Kurt Müller publizierte.

Federzeichnung
von 1920
KEMFederz.204

Aber auch darüber hinaus hinterließ die NS-Zeit in seinem Leben tiefe Spuren. Als sie zuende war, war auch er ein Anderer geworden.  Es waren zwölf in vieler Hinsicht auch für ihn ganz persönlich zerstörerische Jahre, Jahre, die viele Träume und Pläne zunichte machten.

FLACO.242

als große biografische Zäsur