Als Soldat in Russland schrieb Kurt Müller zwischen 1941 und 1943 Gedichte, die seine Gefühle und Eindrücke aus jener Zeit ausdrücken und an seine Frau  gerichtet sind.

14 von ihnen stellte er nach dem Krieg zu einem kleinen Band zusammen; sie sind hier auf diesen Seiten in der deutschen Originalfassung und in

englischer Übersetzung

veröffentlicht.
 
Den Gedichten ist ein kleiner Goethe-Vers vorangestellt, mit dem Kurt Müller sie seiner Frau widmet. Dieser Vers und die 14 Gedichte folgen auf den nächsten Seiten in chronologischer Reihenfolge (siehe die entsprechenden Links im Kasten rechts). Hinzugefügt sind Anmerkungen zum militärischen und historischen Kontext und eine Tonbandaufnahme aus dem Jahr 1967; Kurt Müller rezitiert selbst (aus dem Stegreif) ein Heine-Gedicht, die letzten Worte eines ganz unheldischen Soldaten:

GoetheLEERoR

Und es war nur eine lange Reise  -  6. Mai 1942

 

Gebet  -  8. August 1942

 

Der Soldat  - 2. Dezember 1942

 

Ich habe einen Engel in mir  -  8. Dezember 1942

 

Die Soldatenfrau  -  31. Dezember 1942

 

Bezirke des Herzens  -  17. Januar 1943

 

Tag wie gestern und wie morgen  -  28. Januar 1943

 

Widmung (von Goethe)

 

Von dir  -  9. Juli 1941

 

Abschied von dir  -  Dezember 1941

 

Alle Wege führen zu euch  -  Sylvester 1941

 

Russisches Quartier  -  7. Januar 1942

 

Rußland  -  18. Januar 1942

 

St. Georg  -  Januar 1942

 

Am Dnjepr  -  7. Februar 1942

 

Kurt Müller

 

sen.

geboren am 8. August 1904 in Elberfeld
gestorben am 23. Dezember 1982 in Gütersloh
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Russland Juni 1941 bis März 1943

 
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Gedichte aus dem Krieg 1941 - 1943

©   Kurt Müller 2016
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s48 Kopie 3

"Einsatz" in Russland:

v.2.6.41     Einsatz im Operationsgebiet der Ostfront
- 5.3.43
          Tage mit Feindeinwirkung 1942
          

Febr. März. Apr. Mai  Aug. Sept. Okt.


             6       3        1      2     2      -       1 = 15 Tage

Unten: Auszüge aus Kurt Müllers Wehrpass
für die Zeit in Russland 1941 bis 1943:

 
s45 Kopie 4

Einheiten, in denen Kurt Müller sen. zwischen 1940 und August 1943 "eingesetzt" war:

22.4.40  31.5.40              Lw. Baukomp.       590
                  623 / Vi
1.6.40    5.3.43   

         3.L.B.Batl. 6/IV(VI)

     183
6.3.43   30.7.43         6.schwr.Flakabt. 351    549
1.8.43           1.schw.Flak.Abt.549     245

                    Dienststelle              Stammrollen-Nr.   von        bis         (Truppenteil usw.)       Ranglisten-Nr.

In Russland war Kurt Müller also die gesamte Zeit über im 3. Luftwaffen-Bau-Bataillon der 6.Armee und des IV. bzw. VI. Armeekorps eingesetzt.  Das Bataillon 62./VI wurde Anfang 1940 geschaffen mit 3 Kompanien. 1941 wurde es umbenannt in "

Luftwaffen-Bau-Bataillon 6/IV

" und hatte 4 Kompanien.

s47 Kopie 4

Dienstränge zwischen 1941 und 1943:

Nr.15
1.5.41   Gefreiten,        Komp.-Bef. v.10.5.41
1.5.42   Obergefreiten, Komp.-Bef. Nr.41 v.1.5.42
1.12.42  Unteroffizier,   Batl.Bef. Nr.38 v.1.12.42
KMsen Schreibstube Kopie

Kurt Müller war von Mai 1942 bis zum Kriegsende Rechnungsführer seiner Kompanie.

Vielleicht wirft das nächste Gedicht, "

Russland

", v.a. in seinem zweiten Teil, die meisten Interpretationszweifel auf unter allen 14 Gedichten. Keine denkbare Interpretation ist ganz ohne Rätsel. Hier sei nicht die nächstliegende, aber die schlüssigste dargestellt:
 
Unstrittig der Beginn: der sehnsuchtsvolle, sich im westlichen Himmel verlierende Blick wird schnell von der apokalyptischen Wirklichkeit wieder eingefangen. Der 2.Teil aber, v.a. der Schluss, verwirrt:  denn in der lebens-feindlichsten Umwelt,  in der Verlorenheit gibt es für die Moribundi noch einen letzten Halt, wenn auch nur im Fieberwahn. Die letzten "Gefährten", das letzte "ihr": es sind - die Straßen, sie tragen, sind Ordnung, geben Orientierung. Aber es ist die Orientierung des Untergangs, sie sind nur der  Highway to Hell, für den in letzter Absurdität auch gestorben wird.
 
Ebenfalls mit  Rätseln, jedoch in seiner allegorischen Gestalt eindeutig prä -sentiert sich das sechste Gedicht, "

St. Georg

". Hier stellt der Soldat sich den Forderungen des Krieges, der Unausweichlichkeit der Unterordnung unter sein Gesetz im aufgezwungenen Existenzkampf gegen die Bedrohungen, die den Zwangsrekrutierten von allen Seiten umzingelt haben. Doch auch hier kommt es am Ende zu einer neuen Wendung: der Krieger zeigt Demut, und Gott, der in diesem Gedicht erstmals Ansprechpartner des Dichter-Ichs ist, wird anstelle des Krieges letzte, höchste Instanz.
 
Ganz diesseitig, gegenwärtig, real, fast schon politisch-kritisch das siebte Gedicht: "

Am Dnjepr

", ein Gedicht, das ganz ohne Reim und festes Metrum auskommt und dennoch als Kunstwerk ein ganz besonderes Kleinod darstellt. Hier bekennt Kurt Müller sich - angesichts der Herrenmenschenideologie der damals Herrschenden weder selbstverständlich noch risikolos - zur Menschlichkeit, nicht nur zur eigenen, auch zu der der einheimischen russischen Menschen, der Geschundenen und Entrechteten. Das dreiteilige Gedicht beginnt mit einem fast unwirklich anmutenden Bild, in dem sich die Schönheit der Natur und der Bauwerke mischt mit dem Anblick der Zerstörung. Dann, im zweiten Teil, treten Menschen auf, ein Spiegelbild der Zerstörungen, aber auch Träger aufkeimender Hoffnung. Die Hoffnung aber, der Trost wird hier, im dritten Teil, ganz anders als in den meisten anderen Gedichten schon im Ansatz wieder zerstört. Sie wird zerstört durch den "Gott der Zeit", der gar kein Gott ist, sondern ein gesichtsloser Krieger, Repräsentant des Unmenschlichen, Fühllosen, Unnahbaren und Unbarmherzigen.
 
Das achte Gedicht wiederum bildet den maximal vorstellbaren Kontrast zum siebten: es beschreibt eine Wunschvorstellung der Verzweifelnden, der Morituri mit den frosterstarrten Händen. Schon der Titel bekennt sich zur Utopie: "

Und es war nur eine lange Reise

". Es entfaltet sich ein Gemälde puren Glücks, kaum beeinträchtigt durch Anklänge aktueller Realität, und abgerundet durch ein harmonisch fließendes Metrum und regelmäßige Reime.
 
Im neunten Gedicht, einem "

Gebet

", das in seiner Schönheit und Wahrheit auch Ungläubige zu erreichen vermag und das Kurt Müller an seinem 38.Geburtstag schrieb, nimmt er noch weniger direkten Bezug zur äußeren Gegenwart, aber er formuliert, in zeitlosen Worten eine reale, gegenwartsbezogene Bitte und einen tiefen Glauben eigener Art, seinen Glauben. Der Trost, den er daraus auch in schlimmster Bedrängnis erfährt, ist mit Händen zu greifen.
 
Das zehnte Gedicht, "

Der Soldat

", und das zwölfte, "

Die Soldatenfrau

", bilden komplementäre Hälften einer Art Doppelgedicht, sie stehen in Bezug zueinander, man könnte sagen, in losem Dialog, aber jedes der beiden Gedichte kann auch für sich allein stehen. In beiden ist es jeweils ein fiktives Ich, das spricht; entsprechend den Gedichttiteln ist es im zehnten ein Soldat, im zwölften die Frau eines Soldaten, vermutlich des Sprechers aus dem zehnten. Keines der beiden Ichs kann von vornherein als identisch mit dem Autor bzw. seiner Frau verstanden werden. Beide Gedichte haben ein einziges gemeinsames Thema: Liebe und Nähe in Zeiten der Trennung, Ferne und Sehnsucht, aus denen Nähe wird, Vorstellung, Phantasie beherrschen die Szene, die Realität des Krieges gewinnt keinen Raum. Dennoch, am Ende des 12.Gedichts sind wir in die Realität zurückgekehrt, die Realität des Verzichts und seiner Bewältigung.
 
Diese beiden Gedichte werden quasi getrennt durch ein Gedicht, das dazwischen steht, das elfte: "

Ich habe einen Engel in mir.

" Ist der Engel auch eine Verbindung zwischen den beiden oder nur etwas Trennendes? Die Reihenfolge entspringt sehr wahrscheinlich  dem Zufall, nämlich der Reihenfolge, in der die Gedichte entstanden so wie ja alle Gedichte ein Datum tragen und dementsprechend angeordnet sind. Im Übrigen gehört dieses Gedicht zur kleinen Gruppe derer, die offensichtlich aus dem Rahmen fallen. Trost oder Verbundenheit sind genauso wenig sein Thema wie Krieg. Krieg kommt nur indirekt zur Geltung, als der wahrscheinliche Ursprung der hier berührten existentiellen Thema von Leben, Tod und Ewigkeit. Auf ebenso allegorische wie mysteriöse Weise entfaltet sich erneut eine innere, fast religiöse Welt entfaltet, die sich der einfachen, direkten Deutung entzieht.
 
Rätselhaft und fast ununterbrochen sehr metaphorisch präsentiert sich auch das nächste, das dreizehnte und vorletzte Gedicht, "

Bezirke des Herzens

". Der Krieg taucht nur in Metaphern auf, das tröstende "Finale" fast noch ausgeprägter, was ihm etwas um so mehr Utopisches, Unwirkliches verleiht.


 
Im letzten, dem vierzehnten Gedicht, "

Ein Tag wie gestern und wie morgen

" dominiert wieder die Kriegsrealität und deren Erleben, Trost wird nur angedeutet, der Ausdruck von Monotonie, Perspektivlosigkeit und des Verlusts jeder Kontrolle über das eigene Leben ("Nur der Befehl") erreicht in diesem letzten Gedicht aus Russland seinen Höhepunkt.

Die Entstehung der Gedichte beginnt schon in den ersten Tagen des Angriffs auf die Sowjetunion, der, zu diesem Zeitpunkt, für Kurt Müller genau so überraschend kam wie für die ganze Welt. Der Krieg hatte bis dahin, was persönliche Gefahren und Belastungen betraf, für ihn noch ein vergleichsweise mildes Gesicht gezeigt. Vor dem Krieg ohne jede Erfahrung von Militärdienst, nahm er auch am Krieg gegen Polen nicht teil, und als er 1940 dann doch zum Kriegsdienst eingezogen wurde, kam er - nach kurzer Ausbildung -  zu seinem Glück in eine Kompanie, die am eigentlichen Kampfgeschehen des Kriegs im Westen verhältnismäßig wenig teilnahm und sich darüber hinaus aus Männern zusammensetzte, die dem Nazi-Regime gegenüber überwiegend distanziert oder sogar kritisch eingestellt waren. Es handelte sich, wie er es beschreibt, um  "

eine Luftwaffenbaukompanie ..., wo alle Jahrgänge 1903, 1904, 1905, bis 1910, so ungefähr, reinkamen, das waren die politisch nicht einwandfreien Jahrgänge, die wollte man zusammen haben, um sie besser überwachen zu können. Und das sagte uns unser Spieß, der alte Buss, das war ein netter feiner Kerl: 'Ihr wisst ja, äh, dass wer, äh, dass wer euch nicht trauen können!' Der machte sich darüber lustig.

"
 
Im Krieg befand diese Kompanie sich zunächst in der Nachhut; Kurt Müller sah die zerstörten Städte, war davon erschüttert, sah aber wenig von den Zerstörungshandlungen selbst, und kam seinerseits auch wenig in Gefahr. Politik und Nazi-Diktatur schienen fern, auch für einen sonst politisch bewussten und kritischen Menschen wie Kurt Müller, so unverständlich dies für uns heute sein mag. Das Trugbild einer politisch neutralen, ethisch intakten Wehrmacht wurde schon damals geboren. Zudem dauerte der Landkrieg im Westen für Kurt Müller nur 8 Wochen. Danach gehörte er für ein Jahr zum Bodenpersonal von Flugplätzen in Frankreich und war an keinerlei Kämpfen beteiligt. Es folgte ein Monat der Stationierung in Deutschland und etwas Urlaub. Er ahnte kaum etwas, war innerlich unvorbereitet und ohne größere militärische Erfahrung, als ihn der Befehl zum Einmarsch in die Sowjetunion traf. Aber noch weniger als auf den Angriff selbst war Kurt Müller vorbereitet auf das, was folgte. In den kommenden Monaten, je tiefer er in eine erbarmungslose Kriegsumgebung hineingestoßen wurde und je grausamer u.a. die extrem schlechte Winterausrüstung der deutschen Soldaten ihren Tribut forderte, desto intensiver erlebte Kurt Müller einen zunehmend bedrückenden, teilweise albtraumhaften Wandel seiner Erfahrungswelten. Um die Eindrücke zu verarbeiten, die ihn zu überrollen und in einen Strudel zu ziehen drohten, begann er in dieser Situation, wieder, Gedichte zu schreiben.

Zugleich baut sich immer wieder auch der Kontrast auf, den zu dieser inneren Wirklichkeit der Erinnerung die äußere bildet, die reale Lebenswelt des Krieges. Aber so viele Gemeinsamkeiten es zwischen den Gedichten geben mag, jedes bildet für sich eine eigene kleine Welt mit eigenem Gesicht und Profil. Beides, die Gemeinsamkeiten und das jeweils Besondere, wird hier in diesem Text für jedes der Gedichte beschrieben (s.u.).
 
Schon das in Parafianowo*, 2 Wochen nach Beginn des Einmarsches, entstandene erste Gedicht der Reihe, "

Von Dir

", stellt den Halt und den Trost in den Mittelpunkt, den der Autor sucht, hier aber offenbar auch tatsächlich erhält, indem der Anblick der Schrift seiner Frau seine ganze innere Verbundenheit mit ihr und dem Zuhause mobilisiert.
 
Das zweite Gedicht, "

Abschied von Dir

", entstand fast ein halbes Jahr später, vielleicht nach einem Fronturlaub. Hier nämlich kommt, anders als im ersten Gedicht, Trennungsschmerz zum Ausdruck, noch intensiver aber erneut die aus der Verbundenheit mit seiner Frau auch über wachsende Entfernungen hinweg gewonnene Kraft, die er beschwört. Diese beiden ersten Gedichte sind zugleich die einzigen, in denen er sich ganz ausdrücklich und durchgängig an seine Frau wendet. In den übrigen 12 Gedichten wendet er sich,  als schwände die Präsenz seiner Frau mit zunehmender Kriegsdauer, nicht mehr direkt an sie.


 
Das erste dieser 4 Gedichte, das dritte insgesamt, ist ganz im Plural gehalten, es gibt das "Wir" und das "Ihr", kein "Ich" und kein "Du", schon im Titel: "

Alle Wege führen zu euch

". Und so schwer es zuzuordnen bleibt, wer denn dieses "Ihr" verkörpert, es hat zumindest auch mütterliche Züge; mitten in der kalten, öden, lebensfeindlichen Welt des Krieges entfaltet sich übergangslos, fast halluzinativ eine Traumwelt glücklicher Kindheit, die sich am Ende wieder mit der Realität der Gegenwart verknüpft, indem das utopische "Ihr" zum Ziel allen Strebens, aller Wege bestimmt wird.


 
Das vierte Gedicht, "

Russisches Quartier

", ist das erste ohne ausdrücklich genannten Adressaten; als Subjekt taucht ein "Wir" auf, ohne dass es tragende Qualität erlangt. Vielmehr erzeugen die sparsamen und lakonischen Mittel, die fast neutrale Beobachterhaltung die große Eindringlichkeit der - doppeldeutigen - Botschaft, in der das Ziel des Sehnens, der erhoffte Trost am Ende schmerzhaft von der trostlosen Wirklichkeit übertönt wird.

s46 Kopie 2

Ausbildungen 1940 bis 1942:

Militärische Grundausbildung erhalten bis 31.3.4[0?]
Prüfung als Rechnungsführer beim Lw. Bau-Batl. 6/IV
am 16. und 17.4.1942
Als Rechnungsführer eingesetzt gemäß Befehl Nr.29/4
Lw. Bau-Batl. 6/IV v.30.4.42

"Die 623" in der Erken- nungsnummer bedeutete die Zugehörigkeit zur 3. Kompanie des Bataillons.

s39 Erkennungsmarke

Parafianowo / Парафьяново / Paraf'yanov (Breite/Länge: 55°/28°), der Ort, wo am 9. Juli 1941, also gut 2 Wochen nach Beginn des Kriegs in Russland, das erste der hier präsentierten Gedichte entstand, war damals ein "Schtetl", ein Städtchen mit überwiegend jüdischer Bevölkerung (ca. 150 Familien).  Der Ort liegt an einer wichtigen Bahnlinie, auf halber Strecke zwischen Vilnius und Witebsk, und gehört heute zu Weißrussland. Zwischen den Weltkriegen war er Teil Ostpolens, das dann nach dem Hitler-Stalin-Pakt der Sowjetunion zufiel und nach dem Überfall durch Nazideutschland ab 22.6.1941 von der Wehrmacht

besetzt

wurde. Das Luftwaffen-Bau-Bataillon, zu dem Kurt Müller gehörte, war wahrscheinlich vom 9.7. bis zum 1.8.1941 auf dem "Fliegerhorst Parafianowo" stationiert.
 
Danach zog das Bataillon weiter zum Dnjepr, nach dem ca. 200 km entfernten

Orscha

(

Орша

, Weißrussland). Diese Stadt mit ihren beiden Flugplätzen

Orscha

und

Orscha-Süd

(wohl identisch mit Balbasovo /

Болбасово

; dort liegt heute auch ein Soldatenfriedhof), blieb dann Kurt Müllers

Standort

bis zum 5.März 1943, als er das Gebiet der Sowjetunion endgültig verließ. Der "

Fliegerhorst Parafjanowo

" dagegen wurde offenbar nur bis Ende Juli 1941 als solcher genutzt. Einheiten der "Kampfgeschwader" 2 und 3, "Holzhammer" und "Blitz", operierten genau vom 9.7. (bzw. 10.7.) bis zum 1.8. von Parafjanowo aus. In dieser Zeit überschritt die Front den Dnjepr, und es begann die

Kesselschlacht von Smolensk

.
 
In diesen Anfangswochen des Kriegs in Russland, als das erste Gedicht, "

Von Dir

", entstand, wusste Kurt Müller noch nichts davon, dass auch hier in Parafianowo, so wie im gesamten ostpolnisch-weißrussischen Gebiet, sehr bald nach dem Abzug der Luftwaffenbataillone, der systematische Massenmord an der jüdischen Bevölkerung seinen Anfang nehmen würde. Er wusste, besonders durch Betroffene in seinem engsten Freundeskreis, von der Verfolgung der Juden, von der Gewalt und Willkür des Nazi-Mobs, er wusste von Verbrechen des Staates und von Konzentrationslagern, aber er wusste nichts, konnte noch nichts wissen vom bevorstehenden systematischen Massenmord. Es hätte aber auch jenseits seiner Vorstellungskraft gelegen, so wie es auch im Widerspruch stand zu seinen Einstellungen* und seiner gesamten ethischen Haltung.


 
Wie nah das verbrecherische Geschehen, dessen Hauptakteure die  sogenannten Einsatzgruppen der SS waren, an dem aber auch andere Einheiten (v.a. Infanterie- und Polizeibataillone) beteiligt waren, im weiteren Kriegsverlauf noch an ihn heranrückte, wissen wir nicht. Wir wissen aber, dass die schlimmsten Entscheidungskonflikte ihm erspart blieben, weil Luftwaffen-Baubataillone, so wie die große Mehrheit der Millionen von Wehrmachtssoldaten, die in diesem Teil von Osteuropa stationiert waren, nicht an diesen Verbrechen beteiligt waren. Dem entspricht das oben schon in anekdotischer Form geschilderte Erlebnis ebenso wie das folgende, das zeigt, wie kritisch Kurt Müller selbst und andere Männer der Kompanie diesen Einmarsch betrachteten: "

Unser Hauptmann, der Kompanieführer da, der war aus Köln, war da mal Karnevalsprinz gewesen: als wir in Russland reinzogen, gleich am ersten Tag mit, am 20. Juni oder wann das war, mit den Lastwagen, wie wir da in Russland* reinzogen und ich da die halbfertigen oder im Bau befindlichen Verteidigungslinien der Russen sah, da sagte ich - der saß bei mir mit im Kastenwagen -: 'Das hier sollen fertige, auf Angriff gerichtete Befestigungen sein?'  Sagt der: 'Müller, ruhig! Sagen Se nichts! Sagen Se nichts!'" (

*genauer: in die 2 Jahre zuvor mit Hitlers Zustimmung durch Stalin annektierten ostpolnischen Gebiete).

Die Soldaten und Offiziere von Kurt Müllers Baubataillons waren vielleicht keine Helden oder Widerstandskämpfer, aber in ihrer Mehrheit waren sie auch keine Nazis. Sie hatten mehrheitlich Distanz zum Regime und waren weder wirklich prädestiniert zu Verbrechenshelfern noch wurden sie von den Planern der Verbrechen dazu für geeignet gehalten, weil sie als "unzuverlässig" und "nicht vertrauenswürdig" galten.
 
Was wir nicht wissen, ist, welche Informationen oder Gerüchte über den Mord an den Juden (der damals, vor der Errichtung der Vernichtungslager, noch nicht im selben Maß wie später durchorganisiert war) Kurt Müller im Lauf der eineinhalb Jahre erreichten, die sein Bataillon noch auf russischem Boden stand, oder welche Erlebnisse er möglicherweise hatte.  Das ausführliche Gespräch über Kurt Müllers Leben, das auf diesen Internetseiten

dokumentiert

ist, war chronologisch angelegt und endete nach 2 Gesprächstagen genau mit dem Beginn der Kriegserinnerungen und konnte aufgrund seines sich rapide verschlechternden Gesundheitszustandes nie mehr fortgesetzt werden. Er starb wenige Wochen danach. Bis dahin hatte es im Familienkreis zwar Gespräche zum Thema der Ermordung der Juden gegeben (zumal mehrere Menschen aus Kurt Müllers engeren Freundeskreis entweder ermordet wurden oder knapp der Ermordung entkamen), aber keine ausdrückliche Diskussion der Erfahrungen, Eindrücke oder Informationen, die er an der Front sammelte.
 
In den Gedichten findet sich kein direkter Bezug zu den Verbrechen an den Juden; dies wäre, wegen der Gefährlichkeit solcher Erwähnungen, auch unwahrscheinlich gewesen. Mitgefühl, ein Gefühl für das Leiden der geschundenen Menschen, der Einheimischen, der Nicht- Soldaten und der Soldaten, findet sich jedoch an vielen Stellen, exemplarisch zu nennen ist das Gedicht

"Am Dnjepr"

.

Zum historischen und militärischen Kontext

* Seine Haltung spiegelt sich in den Worten seiner jüdischen Freundin

Grete Wolf

, der er sein ganzes Leben lang in Freundschaft verbunden war. In Briefen an seinen Sohn beschrieb sie nach seinem Tod, was diese Freundschaft ausmachte und wie sie auch unter dem Naziregime fortbestand:
 

"Er hat seine Freundschaft aufrecht erhalten, trotz der furchtbaren Zeiten. Er sowie seine Mutter haben es nicht unterlassen, mit uns in Verbindung zu sein, so nahe standen sich die beiden Familien..... Sie und Kurt blieben uns treu trotz Hitler. ....das war noch richtige Freundschaft, die man hier

[in der neuen Heimat]

kaum findet. In guten und in schlechten Tagen hielt man zusammen."
 

Wie wenig selbstverständlich, ja, wie potentiell hoch- gefährlich ein solches Verhalten damals war und immer mehr wurde, vermitteln Erinnerungen von Nichtjuden ebenso wie Juden aus jener Zeit in großer Zahl.

1940: Frankreich
 
1941 - 43: Gedichte im Krieg
 
1943: Köln - Flak
 
1943 -45: Briefe aus dem Krieg
 
1940: Eingezogen zur Wehrmacht
 

Zum Übersetzen von Gedichten


 
 
In ihrer deutschen Originalfassung sind Kurt Müllers Gedichte aus dem Krieg in Russland schon ein paar Jahre lang auf diesen Seiten zu finden gewesen. Da es sich aber um zweisprachige Seiten handelt, wuchs mit der Zeit der Anreiz, auch den englischsprachigen Besuchern der Seiten den Zugang zu dem Inhalt der Gedichte zu ermöglichen. Jetzt ist auch diese Arbeit getan, und die
Übersetzungen
der Gedichte sind online. Jedes Gedicht hat - neben der ursprünglichen, rein deutschsprachigen Seite - jetzt auch eine eigene Seite, wo die englische und die deutsche Fassung nebeneinander betrachtet werden können, oder auch jede der beiden Fassungen wahlweise zusammen mit dem Faksimile der originalen handschriftlichen Fassung.
 
Die Gedichte zu übersetzen, bedeutete nicht nur eine Versuchung, sondern auch eine große Herausforderung. Die Bedeutung eines Gedichts wird, verglichen mit Prosa, nicht nur mit andern Mitteln transportiert, sondern sie ist auch regelrecht anders definiert.. Sie wird simultan von einer Vielzahl Faktoren erzeugt. Es kommt bei ihr nicht nur auf die einfache Denotation und ein wenig auf die Konnotationen an, wie oft bei Prosa der Fall, sondern es tragen viele andere Textmerkmale und -komponenten bei zum Eindruck des Lesers, besser: des Hörers vom Inhalt und zu seinen sich damit verbindenden Gefühlen. Insbesondere Metrum, Reim, Rhythmus und andere strukturelle Textmerkmale (wie z.B. auch Alliterationen) sind solche zusätzlichen Parameter, die insbesondere durch ihre Wechselwirkung die Bedeutung mit konstituieren. Das Metrum als solches, z.B., transportiert in der Regel nur kleinere Bedeutungsanteile, aber wo und wie seine Regelmäßigkeit unterbrochen wird, kann ebenso viel zur Bedeutung eines Verses beitragen wie seine Wechselwirkung mit der grammatischen Satzstruktur; zusammen erzeugen diese Elemente Teile des Sprachrhythmus.
 
All dies in Betracht gezogen, wird schnell klar, dass eine vollständige Übersetzung aller Gedichtkomponenten und -strukturen genau so unmöglich ist wie eine perfekte Übersetzung. Es ist nicht möglich, in der Zielsprache eine so exakte, kongruente Abbildung und gleichartige Anordnung aller Komponenten aus der Herkunftssprache zu erzeugen wie sie notwendig wäre, um eine Übersetzung vollständig nennen zu dürfen.
 
Unvollständigkeit ist also unvermeidlich wenn wir versuchen, Gedichte aus dem Körper ihrer Originalsprache quasi herauszutrennen und in einer anderen Sprache wiederzubeleben. Ein realistischeres Ziel als Vollständigkeit, auf das Übersetzer sich vielleicht einigen könnten, wäre die Übertragung einer maximal möglichen Portion Bedeutung, im Sinn ihrer oben formulierten Definition durch denotative und viele andere Bedeutungsträger. Die Einigkeit wäre aber bereits wieder zuende bei der Frage, welche Bedeutungskomponenten in ihrer Rolle als Bedeutungsträger wichtiger sind als andere, z.B. ob es  wichtiger ist, eine sehr genaue, vielleicht wörtliche Übersetzung der denotativen Bedeutung zu schaffen,  oder diese Genauigkeit einzuschränken durch die Berücksichtigung anderer, formaler Komponenten, wie z.B. des Reims. Mehr oder weniger willkürliche Entscheidungen zwischen unterschiedlichen grundsätzlichen Vorgaben lassen sich also kaum vermeiden.*
 
In den Übersetzungen von Kurt Müllers Gedichten jedenfalls wurde der wörtlichen Übersetzung keine Priorität gegeben, sondern Ziel war eine möglichst harmonische Berücksichtigung aller Bedeutungskomponenten, mit einer Ausnahme: als strikte Vorgabe wurde die genaue Abbildung der Reimstruktur im englischen Text gewählt, so wie sie im deutschen Original gegeben ist. Ebenfalls weitgehend, wenn auch mit etwas weniger Strenge, wurde versucht, Metrum und Rhythmus des Originals in der Übersetzung wiederzugeben. Wenn eine wörtliche Übersetzung trotzdem möglich war, wurde sie natürlich auch realisiert, wenn aber nicht, wurden an manchen Stellen andere Metaphern gewählt, die aber in ihrem Ausdrucksgehalt so nah wie möglich an denen des Originaltexts liegen sollten.
 
All diese Überlegungen und Kriterien wirkten zusammen bei der Erschaffung der englischen Version eines Gedichts - denn etwas Anderes kann es nicht sein als das: ein eigenes Stück lebendige Sprache, das für sich "funktioniert", lebt, ohne "am Tropf" des Originals zu hängen, mit seinen anderen Bausteinen trotzdem im Kopf des englischsprachigen Lesers / Hörers ein gleiches oder sehr ähnliches Resultat erzeugt wie es das deutsche Original im Kopf des deutschen Rezipienten vermag, das verstanden wird und zwar im Kern und möglichst weitgehend so wie es dem Inhalt und der Intention des Originals entspricht. Wir** hoffen, diese Ziel nicht allzu weit verfehlt zu haben, auch wenn wir sicherlich noch viel Platz für Verbesserungen gelassen haben.
 
* Ein Beispiel findet sich
hier
für zwei sehr unterschiedliche Übersetzungen ein und desselben Gedichts, nämlich Heinrich Heines
"Enfant perdu
", wobei das deutsche Original zweifach vorhanden ist, sowohl in Schrift als auch gesprochen von Kurt Müller (sen.), dem Autor der Gedichte aus dem Krieg. Die Übersetzungen, von denen jede ihre starken und ihre weniger starken Passagen hat, stammen von Lord Houghton und von Louis Untermeyer.
 
** Wir, das sind: Kurt Müller (junior), der Sohn des Autors, und seine Frau Anne Humphreys, die ihm mit dem Rat der englischen Muttersprachlerin zur Seite stand. Ein ganz großer Dank gebührt auch Jacqui Humphreys für viele Hinweise, die wichtige Korrekturen ermöglichten, und für etliche kreative neue Übersetzungsideen.

Leitmotiv der meisten Gedichte ist das Bemühen, sich selbst zu bewahren oder wieder zu finden, die Suche nach einem Halt in der Verlorenheit des Krieges. Dieser Halt wird gesucht in der Beschwörung der Verbundenheit mit dem Vertrauten, zuallererst mit der Empfängerin der Gedichte, seiner Frau, aber auch mit der Familie insgesamt, der Heimat, den Freunden, dem Leben, dem er entrissen wurde.

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