(eines Mädchens) am 20. Juni 1944 (2.Brief, der erste ist nicht erhalten):
30/6.44
Du liebe gute Frau!
Ich weiß gar nicht, ob ich gestern das richtige Wort für Dich gefunden habe. Es war eine so große Not in mir um Dich, und wiewohl Dein Brief so tapfer war, war doch eine schmerzliche Angst in mir und wußte nicht aus noch ein. Es war nicht die Trauer um das kleine Wesen, auf das wir beide uns so sehr gefreut hatten. Es war nur Angst um Dich. Und nun schreibst Du mir Deinen zweiten Brief aus dem Krankenhaus (23/6), mit dem Du mir so viel Trost und Mut zusprichst und schenkst, obwohl ich doch eigentlich Dir allein Mut und Vertrauen und Hoffnung geben müßte. Aber mit Deinem Brief hast Du die Verkrampfung, die aus der argen Sorge um Dich entstand, gelöst. Und da bin ich denn mal in ein stilles Örtchen gegangen und habe ein bißchen geflennt. Das ist grad nicht sehr tapfer, aber es tat gut. Nun ist der Kopf und das Herz wieder freier geworden. Ja, Liebste, ich denke
nur
an Dich. Gewiss ist auch Trauer in mir um diese nicht zum Leben gereifte Freude. Aber diese Traurigkeit ist viel besser zu ertragen als diese Sorge, diese Not um Dich. Du schreibst so lieb, daß ich mir keine Sorge zu machen bräuchte. Ja, ich bin trotz allem recht dankbar, daß die Geburt erträglich war, daß keine Komplikationen eingetreten sind und hoffentlich auch keine mehr eintreten, und daß sie alle so lieb und nett zu Dir sind. Es ist schön für mich, das zu wissen. Aber so lieb, wie Du es verdienst, kann ja keiner zu Dir sein. Wie war es nur möglich, daß ich Dir einmal so Sorge und Kummer bereiten würde. Aber so gehöre ich Dir jetzt auch tausendfach. Wenn wir durch alle die Not und Prüfungen und "Päckchen", die der liebe Gott uns zu tragen gibt, immer mehr in einander wachsen, so ist das auch ein Lohn für das, was er uns sonst vorenthalten zu müssen glaubt. Daß meine gute Mami sehr tapfer bei der Geburt war, wußte ich vorher. Wie könntest Du auch anders sein. Es ist auch schön zu wissen, daß Dein Körperbau eine normale Geburt erwarten läßt. So werden wir vielleicht doch einmal gesegnet werden. Und wenn diese Möglichkeit ausgeschlossen wäre, nun, es sind so viele viele Kindlein heute in Deutschland, die wieder eine Mami und einen Papi haben möchten. Ja, Liebste, von unserer Liebe werden wir einmal abgeben müssen, daran glaube ich fest. Damit das Leben nicht aufhöre und die Sorge, die so schmerzlich schön ist.
Es ist gut, daß Du mir alles schreibst und mir genau alles erzählst. Alles, wie es um Dich steht, muß ich wissen. Immer enger zieht sich der Kreis um uns beide. Manchmal habe ich Angst, daß diese Liebe zu groß wird. Aber gibt es überhaupt dabei "zu groß"? Wir gehören mehr denn je zueinander, in Freuden und im Trauern. Das gibt uns Stärke und Vertrauen. Auch jetzt. Wenn Du es nur mit Leib und Seele bestehst, das ist das Wichtigste. - Es gibt so viel Leid jetzt, Liebste, Leid, neben dem das unsrige klein und nichtig erscheint. Wenn auch die Größe des Leids nur nach der Erlebnisstärke gemessen werden kann, wir beide sind nicht so vermessen, die Tränen anderer geringer zu achten. Wo viele andere keinen Ausweg mehr haben, da haben wir noch unsere Liebe, die immer reiner, stärker und bedingungsloser geworden ist. Wir haben immer noch Zukunft und Hoffnung. Wie mancher hat das nicht mehr.
Daß Du keine größere Not während der Geburt gelitten hast, ist mir wirklich eine tiefe Beruhigung. Daß Deine Herzensnot und Trauer nicht so groß sein möge, darum bitte ich Gott und helfe Dir mit meiner ganzen Liebe, mit meinem Wünschen und mit meinem Leben.
Gute Nacht, Du liebe, liebste Frau Dein Mann
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Kurt Müller sen.
geboren am 8. August 1904 in Elberfeld gestorben am 23. Dezember 1982 in Gütersloh