Auch nach 1945 setzt Willy Haas jene Maximen um, die seinen Erfolg als Gründer und Herausgeber der Wochenzeitung
"Die Literarische Welt"
begründet hatten, mit der er von 1925 bis 1933 Furore machte. Wenn
dieses modernste und unterhaltsamste Literaturperiodikum, das Deutschland je besessen hat
, auch heute noch einen geradezu legendären Ruf genießt, dann liegt das vor allem daran, dass Haas, mutig wie nur wenige deutsche Intellektuelle vor oder nach ihm, gleich mit mehreren Prinzipien brach, die nach wie vor immer wieder als Hemmschuh das geistige Leben hier zu Lande behindern.
Oberstes Gebot war dem gebürtigen Prager Juden, der noch im Völkergemisch der k. u. k. Monarchie groß geworden war, strikte Internationalität. Insofern war der Name
"Literarische Welt"
durchaus wörtlich gemeint. Was in der literarischen Welt seiner Zeit Rang und Namen hatte, gelangte ins Blatt. André Gide und Aldous Huxley, Luigi Pirandello und Upton Sinclair waren mit der gleichen Selbstverständlichkeit Beiträger der "Literarischen Welt" wie die deutschen Größen der Zeit, hießen sie nun Thomas Mann oder Hugo von Hofmannsthal, Gerhart Hauptmann und Stefan Zweig.
Aber eben nicht nur die Größen kamen zu Wort.
Willy Haas, der promovierte Philosoph und Kafka-Freund
, war wahrscheinlich der erste maßgebliche Publizist bei uns überhaupt, der die verhängnisvolle Unterteilung in E- und U-Kultur, jedenfalls was sein eigenes Medium angeht, erfolgreich überwand. Den "Ehrenkodex" der deutschen "Geistesaristokratie" hielt er spätestens mit dem Ende des Kaiserreichs für "abgebaut". Wer eine demokratische Kultur und Literatur wolle, so wurde Haas nicht müde zu betonen, müsse auch die Massenkultur wahrnehmen und kritisch begleiten.
Die zahllosen Schriftstellerumfragen der
"Literarischen Welt"
, mit denen er ein Element der Boulevardpresse literarisch salonfähig machte, zeugten ebenfalls von seinem Bemühen, die Literatur einzubinden ins gesellschaftliche Ganze - und also "Geist" und "Leben" miteinander zu versöhnen - wie seine Aufmerksamkeit für triviale Genres, mit der man sich nichts vergibt, solange man letzteren intelligent und originell begegnet. Dazu hielt Haas seine Mitarbeiter unablässig an und machte ihnen selber vor, wie er sich's dachte. Ein oft gedruckter und zitierter Aufsatz wie "Die Theologie im Kriminalroman" deutet die methodische Richtung an: Literatur nicht isoliert und als vom Himmel gefallen zu betrachten, sondern als Ausdruck weltanschaulicher, politischer, sozialer, mentaler Fragestellungen der Zeit zu deuten.
Damit ist ein weiteres Stichwort gefallen. Literarische Publizistik im allgemeinen und Literaturkritik im Besonderen waren für Haas Zeitkritik. Noch der Blick in die Vergangenheit war vom Wunsch nach Verständnis der Gegenwart geprägt. Dichterjubiläen wurden oft in der
"Literarischen Welt"
gefeiert. Aber Ausgangspunkt aller Überlegungen hieß immer: Was bedeuten uns Lichtenberg oder Lessing, Goethe oder Gogol heute? Bedeuten sie uns überhaupt noch etwas? Dabei war jene nostalgische Miesepetrigkeit, die von alters her den deutschen Intellektuellen gegenüber der eigenen Zeit argwöhnisch bis zum apokalyptischen Kulturpessimismus macht, Haas' Sache nicht. Wohl sah er die Gefährdungen der Weimarer Republik, er war weder auf dem rechten noch, was ja häufiger vorkommt, auf dem linken Auge blind. Aber er ließ sich nie von jener defätistischen "linken Melancholie" anstecken, welche die Einsprüche wider den Zeigeist eines Kurt Tucholsky oder Siegfried Kracauer oft so wohlfeil und weltfremd aussehen lässt. Haas war eben ein Liberaler. Der fühlt sich moralisch zum Optimismus verpflichtet.
Die Aufgeschlossenheit für die eigene Zeit brachte ein Interesse für alles Neue, Zukunftsträchtige mit sich, mit der Willy Haas ebenfalls in der geistigen Landschaft seiner Zeit als ungewöhnlich dasteht. Am deutlichsten fassbar wird diese Aufgeschlossenheit in seinem Engagement für das moderne Kunstmedium schlechthin: den Film. Wie die meisten Journalisten der Weimarer Republik hatte Haas auch den Ehrgeiz, Bücher zu schreiben. Aber bei ihm wurden es keine Romane oder Reisereportagen, sondern Drehbücher. Das Filmskript zu Murnaus "Brennendem Acker" und zu Pabsts "Freudloser Gasse" stammt von Willy Haas, um nur die bekanntesten Titel zu nennen. Er, der als Journalist Autor und Blattmacher war, widmete sich der praktischen Seite des Kinos genau so gern wie der literarischen, weshalb er auch, als Emigrant in Indien, mühelos ins Filmgeschäft zu wechseln vermochte. Über seine Zeit bei den "Bhavnani Productions" schrieb er in seinen Lebenserinnerungen von 1957 genauso begeistert wie über das literarische Leben der zwanziger Jahre.
Von einem aufstrebenden Kollegen einmal nach dem Grund für seine Vorliebe für den Film gefragt, gab Willy Haas zur Antwort: "Weil er den Menschen wirklich gefallen muss, um weiter zu existieren." Gefallen sollte in seinen Augen auch die Literatur. Heute würden wir sogar sagen: Sie muss gefallen, wenn sie im Zeitalter einer so mächtigen Konkurrenz, wie sie von Film, Fernsehen, Internet ausgeht, weiter existieren will. Doch neben pragmatischen Argumenten für die Betonung des Gefallens gibt es die moralischen, die für Willy Haas noch die maßgeblicheren waren. Wieder zeigt sich seine liberale Denkungsart, der geistig-politische Bevormundung zuwider ist. Haas hatte Respekt vor dem Publikum. Aufklärung und Belehrung, die so schnell zur Indoktrinierung degenerieren, von der Literatur zu erwarten, reichte ihm nicht.