Während der Zeit des Konfirmandenunterrichts beauftragte mich der Isselhorster Dorfpastor und Patriarch Wiehage mehrfach, meine Großmutter aufzufordern, wieder öfter in die Kirche zu kommen - wo sie überhaupt nicht mehr erschien - bzw. dann auch, sie zu befragen, warum sie denn nicht komme, obgleich ihn sein Weg oft selbst an ihrem Garten vorbeiführte und dann auch öfter ein kleiner Plausch stattfand. Er hätte sie also mühelos auch selbst fragen können, aber er wagte es wohl nicht. Ihre Antwort war jedenfalls:: "Ich kann doch nicht so lange sitzen, mit meinen Knien!" Als ich ihm das überbrachte, sagte er: "Ja, aber im Kino, da kann sie sitzen!" Das Kino war nun einmal ihre große Leidenschaft, dafür nahm sie lange Wege in Kauf. Die Bemerkung darüber hat sie dem Dorfpfarrer nie verziehen (denn das sei doch was ganz Anderes, in der Kirche, auf den harten Bänken!).
Überhaupt hatte sie zum Kontakt und zu den Menschen ein eigentümlich ambivalentes Verhältnis. Sie redete sehr gern, gern und viel, manchmal wie ein Wasserfall, sie genoss es und verfügte über eine Redetechnik, die es anderen schwermachte, überhaupt zu Wort zu kommen (Pausen machte sie nur während der Sätze, nie zwischen den Sätzen). So passierte es nicht selten, dass man zu ihr kam, sie begann zu reden, redete eine Stunde, redete zwei Stunden, und der Gast ging wieder, fast ohne ein einziges Wort gesagt zu haben. Wenn aber jemand diese Herausforderung wirklich annahm und auch nur annähernd mithalten konnte, dann hieß es anschließend: "Die braucht nicht wiederzukommen, die redet mir zu viel!" So war sie sehr "kommunikativ", aber letzten Endes dominierte das Eigenwillige und Eigenbrötlerische, so dass sie mehr und mehr eine Art Einsiedlerleben führte, was sich noch einmal drastisch verstärkte, als sie wegen zunehmender Gehprobleme ihren Garten aufgeben musste. Auch meine Eltern, mit denen sie in einem Haus (wenn auch auf zwei verschiedenen Stockwerken) zusammenlebte, ließ sie nicht an sich herankommen, sie verteidigte nicht nur ihr Reich, sondern v.a. ihren "Way of life". Z.B. wollte sie ihre Wäsche nicht mit der Waschmaschine gewaschen haben, sondern wusch sie mit der Hand. Wenn Neuerungen ins Haus standen, auch wenn sie eigentlich nur meine Eltern betrafen, wie (um 1960) die Anschaffung eines Autos und später eines Fernsehers reagierte sie ablehnend, fast panisch, und schwor, sich nie dahinein bzw. davor zu setzen, ein Schwur, den sie beim Auto auch gehalten hat, beim Fernseher dagegen nicht. Den hat sie später selbst übernommen, er löste das Kino als ihre größte Leidenschaft ab (schöne alte Filme, am liebsten Operettenfilme, das war nach Karnevalssendungen ihr größtes Vergnügen).