20/1.45
 
Meine liebe Frau!
 
Es ist ein wunderbar sonniger, klarer und nicht so kalter Wintertag. Die Wärme der Sonne ist deutlich zu spüren und so weiß man doch schon, daß die Tage wieder länger werden und der Frühling auch nicht mehr so fern sein kann. Eine Schar doppelrumpfiger Lightnings zog oben in mäßiger Höhe über uns weg. Sie werden wohl wieder Jagd auf Lokomotiven machen. Wie schön und friedlich das alles aussieht, und wieviel Leid und Not ist überall. Doch glaube ich, daß diese schönen Tage uns geschenkt werden, um Kraft zu schöpfen und das Schwere bestehen zu können. Unsere Landschaft hier ist so reizlos, wie sie nur sein kann. So weit man sieht, kein Baum, kein Strauch, hier und da niedrige Brunnenhäuser, ruhige Stroh- u. Heuhaufen, dabei ein schmaler Weg, sonst alles Feld und flach und gleichmäßig von einem ungeheuer weißen Schnee bedeckt. Ich mußte die Sonnenbrille aufsetzen, als ich eben draußen war. Und doch ist das alles so schön gegen den tiefblauen Himmel und in der Sonne, die schon so warm ist. Und dabei dachte ich an Dich, wie Du am Sylvester-Abend durch Isselhorst gingst und auch so die stille Heimlichkeit der Schneelandschaft empfandest. Wie gut ist es doch, daß uns noch solche Geschenke gemacht werden, auch darum wollen wir dankbar sein. Unser neuer Chef ist heute gekommen. Er ist Schlesier. Man kann noch nicht viel sagen. Ihm fehlt die österreichische Verbindlichkeit, die der alte Chef hatte. Er macht einen etwas rauhen, bäuerlichen Eindruck. 28 Jahre alt. Vielleicht ist es gut, daß man sich nicht allzuviel verspricht. Es kann ja dann nur noch besser werden.
Nun muß ich Dich aber einmal fragen, wie es mit Deinen Kleidern u. Schuhen steht. Ich habe Dir schon mal geschrieben, daß Du Dir doch den Mantelstoff von mir nehmen sollst und auch andere Sachen. Es ist besser, als wenn sie eines Tages verloren gehen. Und Schuhe? Kannst Du Dir nicht für meinen Schaftstiefel welche eintauschen oder vielleicht sogar ein Paar Stiefel machen lassen? Du hast mir noch nicht darauf geantwortet. Ich möchte nicht, daß Du frierst oder gar nasse Füße bekommst. Wenn ich mal wieder zu Hause bin, werde ich hoffentlich nicht mehr nötig haben, Schaftstiefel anzuziehen. Ob es Dir gut geht? Ich wünsche es Dir und mir. Alle meine Wünsche und Grüße gehen zu Dir, Du Liebe
 
Dein Mann

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Kurt Müller sen.

geboren am 8. August 1904 in Elberfeld
gestorben am 23. Dezember 1982 in Gütersloh
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Briefe aus dem Krieg 1944/45

 
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